1. Unsicherheit und Staunen
  2. Fragen
  3. Antworten suchen
  4. Bewerten der Antworten (Evaluation)
  5. Anwenden der Erkenntnisse auf den jeweiligen einzelnen Behandlungsfall
  6. kritischer Rückblick

Referenzen

 

werkzeugkasten

ein schöner Werkzeugkasten

Sie befinden sich hier: home zahnarzt werkzeugkasten

Werkzeugkasten

Kurz: Zuerst kommt das Staunen, das Eingeständnis etwas nicht so genau zu verstehen, dann kommt die gut formulierte Frage, dann die effiziente und nachvollziehbare Suchstrategie, dann die Bewertung des Gefundenen, dann die Anwendung als eigentlichem Ziel des ganzen Weges und zuletzt der kritische Rückblick - was war gut, was kann man noch besser machen.

Der Arbeitsgang der evidenzbasierten Zahnmedizin ist einfach. Er führt über fünf Schritte, wenn man den eigentlichen Ausgangspunkt hinzunimmt, sind es sechs:

1. Staunen

Zunächst, und das wird für gewöhnlich gar nicht mitgerechnet, kommt das Staunen, die Verwunderung, das Gefühl, die Sache sei nicht völlig klar. Das muss man sich ja erst einmal eingestehen können. Und das läuft dem Klischee vom Arzt, der immer alles im Griff hat, entgegen. Aber sich selbst zumindest die Unsicherheit, das Nichtwissen eingestehen, ist wichtig. Daraus folgt das präzise Fragen und Suchen und dann, im Erfolgsfalle, das wirklich bessere Wissen, die bessere Evidenz. Ob der Patient an diesem Prozess der Verunsicherung beteiligt wird, das muss dem Fingerspitzengefühl des Praktikers in der jeweiligen Situation überlassen bleiben. Tendenziell sollte man aber auch hier so wenig als möglich den Halbgott in Weiß spielen.

In einer lesenswerten Übersicht zum Stand der evidenzbasierten Medizin in der allgemeinärztlichen Praxis schreibt Brandi White: Making Evidence-Based Medicine Doable in Everyday Practice. Finding the evidence you need is getting easier than you ever thought possible. In: Family Practice Management 2/2004, 51-58:

"An ever-expanding literature base, the complexity of modern medicine and a limited amount of time and human mental capacity make clinical uncertainty a reality of medical practice."

Das Staunen, das zugestandene Nichtwissen, die Unsicherheit ("clinical uncertainty"), sind allerdings keine neue Erscheinung. Zeugen dafür gibt es seit der Antike. Und es ist der erste, grundlegende Schritt im Streben nach wirklichem Wissen, nach wirklicher Erkenntnis und Wissenschaft in allen Gebieten, nicht nur in der Medizin. Aber lassen wir berufenere Zeugen sprechen:

„Das Staunen ist die Einstellung eines Mannes, der die Weisheit wahrhaft liebt, ja es gibt keinen anderen Anfang der Philosophie als diesen.“ [Platon: Theaitetos 155 D]

„Staunen veranlasste zuerst – wie noch heute – die Menschen zum Philosophieren.“ [Aristoteles: Metaphysik I 2, 982 b 12]

„Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle. Es ist das Grundgefühl, das an der Wiege von wahrer Kunst und Wissenschaft steht. Wer es nicht kennt und sich nicht wundern, nicht mehr staunen kann, der ist sozusagen tot und sein Auge erloschen.“ [Albert Einstein: Einstein sagt (Alice Calaprice (Hrsg.)), Piper Verlag, München, Zürich, 1997, S. 216] [2]

2. Fragen

Wer allerdings bei der Verwunderung stehen bleibt und nicht zur wohlformulierten Frage weitergeht, wird auch nicht schlauer. Damit ist der zweite Schritt, die möglichst präzise gestellte Frage, erreicht.

Doch ehe man sich jetzt bei der Formulierung perfekter Fragen verheddert oder dabei scheitert, zwei Dinge:

  1. Eine schlecht gestellte oder schlampig skizzierte Frage ist besser als keine.
  2. Es ist nicht schwer einigermaßen vernünftige Fragen zu stellen.

Das Rezept für gute Fragen kann recht einfach sein und besteht aus vier Zutaten:

  1. Den Patienten oder das Problem
  2. Die Intervention, also die diagnostische oder therapeutische ... Maßnahme, die einen interessiert
  3. Eine andere Intervention als Vergleichsstandard. Das kann auch die Nicht-Intervention, z.B. das Abwarten und gar nichts tun, sein.
  4. Das Resultat, die Resultate beim Patienten, die interessieren.

Ein Beispiel: "Single or multiple visits for endodontic treatment?" [3]

Diese Frage hat nicht alle vier Zutaten. Wir haben hier nur die Zutaten Nr. 2 und 3, also die Intervention - eine Sitzung für die Wurzelkanalbehandlung - und die Vergleichsintervention - mehrere Sitzungen. Die Frage ist dennoch gut und klar. Ist es besser eine Wurzelkanalbehandlung in einer Sitzung fertig zu machen oder sollte man die Behandlung über mehrere Sitzungen hinweg durchführen?

Der Untertitel der Publikation ist ausführlicher:

"When people need root canal treatment of permanent teeth, are single-visit
treatments as effective as multiple-visit treatments?"

Hier haben wir alle vier Zutaten! Nr. 1 sind Menschen mit bleibenden Zähnen, die eine Wurzelbehandlung benötigen. Nr. 2 und 3 sind besprochen. Und Nr. 4, das Resultat, ist die Effektivität der Maßnahme, eine zugegeben etwas allgemeine Formulierung.

Präzisiert wird die Effektivität im Volltext der systematischen Übersichtsarbeit [4]:

"Types of outcome measures
The outcome measures for effectiveness were the following.

The outcome measures for complications were the following.

Neben Interventionen, das sind diagnostische und therapeutische Maßnahmen, können ähnlich strukturierte Fragen u. a. zu folgenden Gebieten interessant sein:

3. Suchen

So, wenn man dann eine Frage mehr oder weniger schnell zusammengebraut hat, geht die Suche nach der Antwort los.

Stellen wir uns also den Zahnarzt in seiner Praxis vor. Das Terminbuch ist recht ordentlich gefüllt, die Zeit zwischen den Behandlungen nicht üppig. Wie kommt er schnell und zuverlässig an die Informationen, die er braucht?

Kurzgefasst, er schafft es trotz evidenzbasierter Zahnmedizin nicht so einfach und schnell, wie ich mir das wünschen würde. Ein Äquivalent für Google im Bereich der evidence-based dentistry gibt es leider noch nicht. Ausführlich besprechen wir daher die Informationslieferanten auf einer gesonderten Seite.

Natürlich macht es für den praktischen Zahnarzt keinen Sinn, selbst zu forschen, oder auch nur Einzelpublikationen auszuwerten. Diese Arbeit müssen ihm andere abnehmen. Er sucht sinnvollerweise nach Übersichtarbeiten, die sich mit klinischen Problemen befassen und einen hohen Grad an Evidenz, i.e. wissenschaftlicher Beweiskraft, haben. Diese Übersichtsarbeiten (systematic reviews) stützen sich meist auf mehrere randomisierte, kontrollierte Studien.

4. Bewerten

Hat man dann seine systematischen Übersichtsarbeiten gefunden, ist die Bewertung der wissenschaftlichen Beweiskraft, d.h. des Grades an Evidenz, ein Kinderspiel. Denn die Autoren der Übersichtsarbeit nehmen einem diese Arbeit ab und geben präzise ihre Einschätzung der wissenschaftlichen Beweiskraft der gefundenen Resultate an. Man kann sich m.E. dieser Einschätzung ohne Gewissensbisse anschließen. Eigene Gedanken oder abweichende Meinungen zum Gegenstand sind natürlich erwünscht, sollten allerdings auch wissenschaftlich begründbar sein.

5. Anwenden

Nun kommt die Domäne des Praktikers, jetzt hat er seine vornehmste Aufgabe: die Anwendung des gefundenen Wissens in der Behandlung des jeweiligen besonderen Patienten. Hier findet sozusagen die ganze Arbeit ihr Ziel, dies ist der Zweck aller Mühen, den Patienten gesünder und den Zahnarzt reicher an Ruhm und Ehre zu machen.

6. Kritischer Rückblick

In der Nachsorge und der kontinuierlichen Betreuung der Patienten ergibt sich dann die Bewertung der gefundenen wissenschaftlichen Informationen und ihrer Anwendung bei der Behandlung. In der Rückschau, die kritisch sein muss, zeigt sich noch manches.

So haben wir nun die sechs Arbeitsschritte der evidenzbasierten Zahnmedizin besprochen. Nun heißt es ad fontes, zu den Quellen, oder wo findet man den Stoff aus dem die wissenschaftliche Beweiskraft gemacht wird? [+]

Referenzen:
  1. Brandi White: Making Evidence-Based Medicine Doable in Everyday Practice. Finding the evidence you need is getting easier than you ever thought possible. In: Family Practice Management 2/2004, 51-58.
  2. http://de.wikipedia.org/wiki/Staunen
  3. Evid Based Dent. Volume 9, Issue 1 (2008) 24.
  4. Figini L, Lodi G, Gorni F, Gagliani M. Single versus multiple visits for endodontic treatment of permanent teeth. Cochrane Database of Systematic Reviews 2007, Issue 4. Art. No.: CD005296. DOI: 10.1002/14651858.CD005296.pub2.
  5. Glasziou P, Del Mar C. Evidence-based Medicine Workbook. Finding and applying the best evidence to improve patient care. London: BMJ Books: 2003.