Praxis und Theorie

Die Darstellung des Konkreten in der Kunst

Ärzte als Künstler

Referenzen

 

historisches Gemälde einer Extraktion

Franz Anton Maulbertsch: Der Quacksalber, vor 1785,
Öl auf Holz, 53 x 56 cm: Städtische Kunstsammlungen Augsburg, Inv. Nr. 12083

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Der unsichtbare Patient

Kurz: Der Einzelfall, das ist der jeweilige Patient mit seinen besonderen Bedürfnissen, Wünschen und Nöten, ist für die Praxis der evidenzbasierten Zahnmedizin zentral. Für die wissenschaftliche Darstellung ist er unfassbar. So ist das Zentrum der zahnärztlichen Behandlung ein weißer Fleck auf der Landkarte der Wissenschaft. Die Wissenschaft zielt nämlich ihrem Wesen nach notwendig auf das Verallgemeinerbare, das Regelhafte, das Gesetzmäßige. Die konkrete Behandlung aber hat nicht das Allgemeine vor sich, sondern immer den Einzelfall mit seinen "untypischen", besonderen Zügen. Hier ist somit der springende Punkt für die evidenzbasierte Medizin, wenn sie den konkreten Patienten mit den allgemeinen Ergebnissen der Wissenschaft durch die Vermittlungstätigkeit des Arztes zusammenbringen will und muss.

Warum kommt der konkrete Patient in der Darstellung der evidenzbasierten Medizin und Zahnmedizin nicht vor?

Drei Teile machen, wie besprochen, die evidenzbasierte Zahnmedizin aus. Patient, Zahnarzt und Wissenschaft bilden ein Ganzes.
Das wird allenthalben, meist einführend, so bestimmt. Nehmen wir zum Beispiel ein deutsches Lehrbuch, die Einführung in die Zahnmedizin von 2006, so finden wir bereits auf Seite 20 fortfolgende die „Grundlagen der evidenzbasierten Zahnmedizin“ erläutert. Auch hier wird die Aufgabe der evidenzbasierten Medizin und Zahnmedizin als ein Zusammenwirken der drei Momente, Zahnarzt, Patient und Wissenschaft definiert:

„Primäre Aufgabe der evidenzbasierten Medizin ist die Unterstützung des klinisch tätigen Zahnarztes und Arztes, der seine Erfahrung, die Patientenwünsche, die zu Verfügung stehenden Mittel und die externe Evidenz in seine klinischen Entscheidungen zum Wohle seiner Patienten zusammenfassen muss.“

Als Zweck des Ganzen wird das Wohl der Patienten angegeben.
Nachdem also allgemein bezeugt wird, dass der Patient und sein Wohl der Zweck der Unternehmung ist und die Wünsche und Bedürfnisse der Patienten eines von drei Elementen sind, so könnte man denken, dass das Schrifttum der evidenzbasierten Zahnmedizin zu einem wesentlichen Anteil, vielleicht zu einem Drittel, den Patienten, seine Werte, Wünsche, Vorstellungen, Bedürfnisse und Nöte erörtert.

Nehmen wir folglich eine nicht unbedingt repräsentative Stichprobe. Es gibt in Deutschland leider keine Zeitschrift, die sich hauptsächlich mit evidenzbasierter Zahnheilkunde befasst. Aber im angelsächsischen Sprachraum existieren zwei Journale:

  1. Das Journal of Evidence Bases Dental Practice mit dem Schönen Zusatz - Real-World Implementation of Evidence-Based Dental Practice – und
  2. Evidence-Based Dentistry

Betrachten wir jeweils die erste Ausgabe 2008 und suchen wir nach Beiträgen über die Bedürfnisse und Werte der Patienten.
In der Ausgabe von Evidence-Based Dental Practice findet man zwanzig Beiträge, keinen aber zu dem von uns gesuchten Thema.
In der Zeitschrift Evidence-Based Dentistry, erste Ausgabe 2008, findet man sechzehn Beiträge, auch hier wieder bezüglich des Themas Patient, seine Werte, Bedürfnisse, Wünsche – Fehlanzeige, nicht ein Beitrag.

Wie sieht es aber mit dem grundlegenden Werk zur evidenzbasierten Medizin von David Sackett aus? Wir finden auch hier über eines der drei wesentlichen Momente der evidenzbasierten Medizin, die Wertvorstellungen, Bedürfnisse und Wünsche der Patienten, außer einer definitorischen Erwähnung bei der Klärung, was denn evidenzbasierte Medizin überhaupt ist, nichts.

Wie kommt es zu diesem weißen Fleck auf der Karte, wieso ist der Patient mit seinen Bedürfnissen für das wissenschaftliche Schrifttum sozusagen unter einer Tarnkappe verborgen?

In der Praxis ist der konkrete Mensch, der behandelt wird, sehr sichtbar. In der wissenschaftlichen Theorie ist er unsichtbar. Die Wissenschaft muss ihrem Wesen nach von den Besonderheiten absehen, um zu allgemeingültigen Ergebnissen zu gelangen. Diese allgemeinen Ergebnisse, Gesetze und Regeln kann man auch auf andere "Behandlungsfälle" anwenden. Das Konkrete des jeweiligen einzelnen Patienten ist für die Behandlung anderer Patienten unbedeutend. Ja man sollte sich hüten, als Zahnarzt und auch sonst, eine Besonderheit zu verallgemeinern.

Der Einzelfall ist für die Praxis der evidenzbasierten Zahnheilkunde zentral, für die wissenschaftliche Darstellung ist er unfassbar, unsichtbar.

Epiphanie in der Kunst

Wie kann nun der Patient dargestellt werden? Eine Brille, die das Besondere, das Konkrete, sichtbar macht, ist die Kunst. Ihr Reich ist das Sinnliche, das Besondere, der Einzelfall, das Jeweilige.

Die evidenzbasierte Medizin, die zunächst so trocken und abstrakt erscheint, offenbart in ihrem praktischen Teil eine Lebensfülle, die sich mehr der künstlerischen Darstellung erschließt, als der wissenschaftlichen.

Im TIME magazine, u.s. edition, 15.2.2007, wird ein entsprechendes Resume gezogen (5.). Einleitend stellt die Autorin des Artikels, Christine Gorman, fest:

"Increasingly, doctors seeking to provide their patients with the best possible care are exploring what is known as evidence-based medicine - a hard, cold, empirical look at what works, what doesn't and how to distinguish between the two."

Es ist also der harte, kalte, wissenschaftliche Blick auf das was hilft oder nicht, was funktioniert oder nicht funktioniert und die Frage nach der Güteklasse der wissenschaftlichen Begründung, die Frage nach dem Evidenzniveau. Dennoch ist das nur eine der drei Seiten der evidenzbasierten Medizin, und so schließt der Artikel mit dem Satz, dass Medizin ebenso sehr Kunst wie Wissenschaft ist:

"All patients would probably benefit if their doctors were abreast of the latest data, but none would benefit from being reduced to one of those statistical points. "You have to be able to take a good history and do a physical examination," Guyatt says. "And you have to have an understanding of patients' values and preferences." As much as some physicians might wish it otherwise, there is still as much art to medicine as there is science."

Hier also, in praxi, wird die Medizin und die Zahnheilkunde zur Kunst oder wenigstens zum "Kunsthandwerk" und der Arzt - man sehe mir die Vermessenheit bitte nach - zum Künstler.

Mit dieser kleinen Überlegung haben wir eine Antwort auf die Frage, warum der Patient, als einer der drei zentralen Momente der evidenzbasierten Medizin, in den theoretischen Ausführungen weitgehend unsichtbar bleibt.

Im Folgenden werden wir, notwendigerweise im Allgemeinen, untersuchen, wie sich der Patient zu den beiden anderen Momenten der evidenzbasierten Zahnheilkunde verhält. Wie steht der Patient zum Zahnarzt, wie zur Wissenschaft. Wie findet der Patient den richtigen Behandler, wie wirkt der Patient bei der Behandlung mit, wie kann er mit dem Zahnarzt die Wahl des richtigen Behandlungsweges treffen?

Wie kann sich der Patient über den Stand der Wissenschaft zuverlässig informieren? Wie findet er die für ihn selbst wichtigen Informationen aus dem Wust an Angeboten, gemischt mit Werbung, heraus? Welche Kriterien kann er bei der Bewertung der Informationen anwenden?

Referenzen:
  1. Reitemeier B. et al, Hrsg. Einführung in die Zahnmedizin. Stuttgart: Thieme; 2006.
  2. Evidence-Based Dentistry Journal
  3. Journal of Evidence-Based Dental Practice
  4. Sackett D. L. et al. Evidence-Based Medicine. Edinburgh: Churchill Livingstone; 2000.
  5. Gorman, Christine: Are Doctors Just Playing Hunches? TIME. U.S., 15.2.07