Heilende Dreieinigkeit:
der Patient,
der Zahnarzt und
die Wissenschaft

Dummheit als Mangel an Urteilskraft

Referenzen

zahnarzt im mittelalter

Zahnarzt im Mittelalter

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Um was geht es bei der evidenzbasierten Zahnheilkunde?

Kurz: Evidenzbasierte Zahnmedizin sorgt für eine zuverlässige und schnelle Anwendung der besten wissenschaftlichen Behandlungsmethoden in der zahnärztlichen Praxis. Das ist bei der sich beschleunigenden Informationsflut nicht einfach.
Zugleich bildet der jeweilige, einzelne Patient mit seinen Wünschen, Werten und Bedürfnissen den entscheidenden Maßstab. Es wird durch evidenzbasierte Zahnmedizin nicht über den Kopf des Patienten hinweg und an den Bedürfnissen und Wünschen des Patienten vorbei behandelt. Zwischen den Patienteninteressen und den Ergebnissen der wissenschaftlichen Forschung vermittelt der Arzt. Die evidenzbasierte Zahnmedizin ist somit nicht etwas Revolutionäres, sondern eher eine Weiterentwicklung von Prinzipien, die es in der wissenschaftlichen Medizin und Zahnmedizin teilweise schon seit Langem gibt.

Evidenzbasierte Zahnheilkunde (Evidence-Based Dentistry oder abgekürzt EBD) ist eine maßgebliche Weiterentwicklung innerhalb der wissenschaftlich begründeten Zahnmedizin. Evidenzbasierte Zahnmedizin, und allgemein evidenzbasierte Medizin, sind erfreulicherweise auch kinderleicht. Um die Grundkomponenten zu nennen, muss man lediglich bis drei zählen können. Diese Komponenten sind in der gesamten evidenzbasierten Medizin:

  1. die Werte, Wünsche und Bedürfnisse der Patienten,
  2. die klinische Erfahrung des Zahnarztes (Arztes) und
  3. die beste wissenschaftliche Forschung.

Es geht also um das Zusammenspiel von Wissenschaft, Zahnarzt und Patient. Diese Webseite soll zum einfachen Verständnis beitragen und damit die Anwendung evidenzbasierter Zahnmedizin in der Praxis unterstützen. Adressaten der Seite sind Fachleute und Patienten. Letztlich sollen die Patienten durch die evidenzbasierte Zahnmedizin profitieren.

Patienten müssen sich informieren. Sie können ihre Interessen am besten vertreten. Zahnärzte, Versicherungen, der Staat oder andere Organisationen können dabei helfen, allerdings auch schaden, besonders dann, wenn sie Interessen verfolgen, die denen der Patienten entgegenlaufen. Der Patient sollte die Sache seiner zahnärztlichen und ärztlichen Behandlung nicht völlig aus der Hand geben.

Leider neigt man gelegentlich bei der Darstellung evidenzbasierter Medizin dazu, einzelne Momente der Struktur Patient, Zahnarzt und Wissenschaft, für sich isoliert zu betrachten, und man vergisst sozusagen, bis drei zu zählen. Obgleich die evidenzbasierte Medizin zur maßgeblichen Bewegung innerhalb der Medizin überhaupt geworden ist, stellt man häufig nur die Seite der Wissenschaft dar und behandelt klinische Studien unter verschiedenen Gesichtspunkten. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung, insbesondere im klinischen Bereich, bilden zwar die im Namen der evidenzbasierten Zahnmedizin angeführte Grundlage, die Evidenz (5.). Es wird jedoch weniger darauf gesehen, wie diese wissenschaftlichen Ergebnisse in die Köpfe der Ärzte kommen. Dorthin müssen die neuen Entwicklungen aus der Forschung aber gelangen, um den Patienten zu helfen. Der Weg führt von der wissenschaftlichen Forschung über die Ärzte, das ärztliche Wissen und die ärztlichen Fähigkeiten, zum Patienten. Knowledge Translation Research ist, besonders in Nordamerika, ein Forschungsbereich, der genau diese Schnittstellen von Wissenschaft und praktischer Anwendung zum Gegenstand hat. Die ökonomische Betrachtung der Mittel, einerseits für medizinische Forschung, andererseits für die medizinische Versorgung, allein diese beiden Summen lassen die Frage der Vermittlung von Forschung und Praxis interessant erscheinen. Wie viel wird in die "Verzahnung" der beiden Bereiche, Forschung und Praxis, investiert, wie viel wird hier geforscht, wie sehen die Erfolgskontrollen aus? Wie viele solide Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung kommen, ohne langjährige Verzögerungen, bei der Patientenbehandlung zum Einsatz? Wie viele Behandlungen werden noch nach überholten, veralteten Standards durchgeführt, wie viele Behandlungen haben überhaupt kein wissenschaftlich gesichertes Fundament, ja, wie viele Behandlungen sind entgegen dem hippokratischen Eid und richten mehr Schaden an, als dass sie Nutzen für den Patienten bringen? Im Juni 2008 begann die New York Times eine Artikelserie, The Evidence Gap, über mangelhafte wissenschaftliche Grundlagen für viele Behandlungsmethoden innerhalb der gesamten Humanmedizin.

Aber auch durch die gesundheitlichen Probleme der Patienten ergeben sich direkt, und indirekt über die behandelnden Ärzte, Fragen an die Forschung.

Wenn unter evidenzbasierter Medizin und Zahnmedizin nicht nur wissenschaftliche Forschung verstanden wird, sondern auch die Ärzte und die Patienten in den Blick genommen und berücksichtigt werden, wird die medizinische Behandlung besser.

Der jeweilige Patient und auch der jeweilige Zahnarzt machen die evidenzbasierte Zahnheilkunde interessant und spannend, und die Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles gestalten sich mitunter schwierig. Die Anwendung der besten allgemeinen Wissenschaft im konkreten Fall ist entscheidend. Hier treffen sich "externe Evidenz", das sind die Erkenntnisse insbesondere der klinischen Forschung, die "interne Evidenz", das ist der Arzt mit seiner Erfahrung und seinen Fertigkeiten und als Drittes der Patient mit seinen Vorstellungen, Werten, Möglichkeiten und Bedürfnissen.

Ein deutscher Schriftsteller hat diese Schnittstelle von Allgemeinem und Besonderem vor langer Zeit einmal so formuliert:

"Wenn der Verstand überhaupt als das Vermögen der Regeln erklärt wird, so ist Urteilskraft das Vermögen unter Regeln zu subsumieren, d.i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel (casus datae legis) stehe, oder nicht."

"... Ein Arzt daher, ein Richter, oder ein Staatskundiger, kann viel schöne pathologische, juristische oder politische Regeln im Kopfe haben, in dem Grade, dass er selbst darin gründlicher Lehrer werden kann, und wird dennoch in der Anwendung derselben leicht verstoßen, entweder, weil es ihm an natürlicher Urteilskraft (obgleich nicht am Verstande) mangelt, und er zwar das Allgemeine in abstracto einsehen, aber ob ein Fall in concreto darunter gehöre, nicht unterscheiden kann, oder auch darum, weil er nicht genug durch Beispiele und wirkliche Geschäfte zu diesem Urteile abgerichtet worden."

Etwas weiter unter dieser Stelle führt der Schriftsteller in seiner altertümlichen Sprechweise noch aus:

"Der Mangel an Urteilskraft ist eigentlich das, was man Dummheit nennt, und einem solchen Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen. Ein stumpfer oder eingeschränkter Kopf, dem es an nichts, als am gehörigen Grade des Verstandes und eigenen Begriffen desselben mangelt, ist durch Erlernung sehr wohl, sogar bis zur Gelehrsamkeit, auszurüsten. Da es aber gemeiniglich alsdann auch an jenem (der secunda Petri) zu fehlen pflegt, so ist es nichts ungewöhnliches, sehr gelehrte Männer anzutreffen, die, im Gebrauche ihrer Wissenschaft, jenen nie zu bessernden Mangel häufig blicken lassen." [Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 131 f., mod. Schreibweise]

Man sieht also hier, an den Schnittstellen von allgemeiner Vernunft (Wissenschaft) und dem konkreten Gebrauch der Ergebnisse im Einzelfall durch den Zahnarzt am Patienten können Probleme auftreten.

Der Verfasser dieser Seiten sieht darin auch seine Berechtigung und ein mögliches allgemeineres Interesse, über evidenzbasierte Zahnmedizin aus der Sicht der Praxis zu schreiben. Er ist sozusagen durch vielfältige Beispiele und langjährige "... wirkliche Geschäfte zu diesem Urteile abgerichtet worden."

Wie wichtig der Dreiklang, Patient - Arzt - Wissenschaft, ist, zeigt ebenso einer der Gründerväter der evidenzbasierten Medizin, David Sackett, in seiner Einführung "Evidence-Based Medicine". Der erste Satz auf Seite eins lautet:

"Evidence-based medicine (EBM) is the integration of best research evidence with clinical expertise and patient values."

Hier haben wir es wieder: Wissenschaft (best research evidence) - Arzt (clinical expertise, das ist die klinische Erfahrung des praktizierenden Arztes) und den Patient (patient values).

Einen geradezu poetischen Ausdruck gewinnt das Thema in der Widmung des Buches, The evidence-based practice : Methods, models, and tools for mental health professionals, von Chris E. Stout und A. Hayes (6.):

"To those who are able to navigate between the worlds of science, practice, and humanity, wanting to make a difference and willing to do so; and to the consumers who will ultimately benefit in an improved quality of life."

Lassen Sie uns also ein wenig zwischen den Welten der Wissenschaft, der Praxis und der Menschheit navigieren, der Kompass, der uns leitet, zeigt auf den Nutzen für den Patienten. Sind wir dabei aber nicht zu naiv, wir werden in den Einfluss mächtiger Störfelder kommen, und wir werden uns dann weniger nach dem Kompass als nach den Sternen richten müssen.

Referenzen:
  1. Centre for Evidence-based Dentistry
  2. Introduction to EBM Centre for Evidence-based Medicine, University of Toronto
  3. Policy on evidence-based Dentistry American Dental Association (ADA)
  4. Fachbereich Zahnmedizin. Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin e. V.
  5. Strauss, Sharon E., et al. Evidence-based medicine : How to practice and teach EBM, 3rd ed. New York, NY: Churchill Livingstone, 2005.
  6. Stout Chris E., Randy A. Hayes: The evidence-based practice : Methods, models, and tools for mental health professionals. New Jersey: John Wiley & Sons 2005.